Wasty's Gruselkabinett 1

Der indische Seiltrick

Ron Palmer erhob sich von seinem Stuhl und schritt zur Wand des vornehmen Living-Rooms. Dort bewunderte er eine seltsame, antikwirkende Holzflöte, die an den Orient erinnerte und daneben ein Seil, das aufgerollt an einem verkrümmten Metallhaken hing. "Sehr schön", bemerkte er, als ob er etwas davon verstehen würde. Sei Gastgeber, Sam Hudson, hatte sein Glas abgestellt und erhob sich auch. "Ja, ja, ein Prachtstück, diese Flöte und das Seil". Ein merkwürdiger Klang lag in seiner Stimme. "Ich habe die beiden Sachen von einem Fakir aus Indien, den ich mal in meinen Ferien kennengelernt hatte, bekommen. Du kennst doch den indischen Seiltrick bei dem ein Fakir durch Flötentöne das Seil in Bewegung bringen kann. Dieses hier ist auch ein solches Seil, aber ich brauche es nur als Schmuck für mein Haus", erklärte Sam. "Ich habe noch nie probiert, ob ich es auch könnte".
"So, dann erzähl doch mal von Deiner Reise oder versuche mal, den Trick vorzuführen", meinte Ron erheiternd.
"Ach ja, wollen wir doch zur eigentlichen Sache kommen, wegen der Du hier bist. Du möchtest also Geld bei mir borgen, ho ho", sagte er ungeduldig. Ron Palmer wunderte sich über den plötzlichen Themawechsel. Was war denn heute mit seinem Bekannten los? War es nur schlecht gelaunt? Und erst diese abweisende Ironie in Sams Stimme, als er vom Geld redete. Sams Geld, aber er brauchte es. Wie sollte er seine Bitte nur anbringen, bei dieser Laune, fragte er sich? Er fühlte den kleine Revolver in der Brusttasche. Er hatte an alles gedacht, denn er braucht ja das Geld.

Sam Hudson war bisher immer Rons Kumpel gewesen. Sie hatten viel zusammen unternommen; gemeinsame Ferien und so. Jeder war dem anderen fast wie ein Bruder. Aber jetzt, nachdem sie sich längere Zeit nicht mehr gesehen hatten, hatte sich Sam irgendwie verändert. Er war nicht mehr der offene, freundliche, gesprächige Typ wie früher.

"Ausgerechnet jetzt, wo ich Geld brauche", überlegte er. "Ich habe gehofft, dass er keine Umstände macht und es mir ohne zu fragen gibt. Dann würde es ihn auch nicht stören, wenn er es erst nach einigen Monaten wieder zurückerstattet bekommt. Vielleicht mit einem anständigen Zins". Er dachte daran und an seine Aussicht, Karriere zu machen. Aber dafür brauchte er erst das Geld und er spürte das kalte Metall des Revolvers an seiner Brust. "War das denn wirklich nötig?".

Das Seil schien aufmerksam an der Wand zu hängen.

"Wieviel willst Du?", fragte Sam schnippisch und unterbrach die Stille. "Ah, ehemm...35'000". Tief atmete Ron ein und wartete gespannt auf die Reaktion Sams. "Nein, ich glaube nicht, dass Du es von mir bekommst", meinte er lächelnd. Ron war platt. Er begann allmählich wütend oder auch verzweifelt zu werden. "Verdammt, ich brauche das Geld und werde es kriegen!", schrie er, aber er sah, dass er sich vergebens reizen liess; Sam blieb stur und blickte kalt. "Na gut, 30'000". "Aber nein", klang die freche Antwort. "Doch! Jetzt reicht es mir!". Sam lächelte vergnügt. "Ich brauche nun mal das Geld!", krächzte Ron gereizt. Er zückte den Revolver und legte ihn nervös auf Sam an. Noch ehe der erschrecken konnte, drückte er ab. Ein Schuss zerriss das Schnauben von Ron. Sam fiel zusammen. Seine Augen schienen immer noch nein zu sagen. Ron überlegte kurz, was er getan hatte und entnahm der Leiche die Schlüssel zum Haussafe. Der befand sich hinter den beiden Reisesouvenirs und Ron legte sie auf den Tisch. Der Safe kam zum Vorschein und er öffnete ihn. Er blätterte Dokumente durch bis er ein Scheckbuch fand. Er nahm kein Bargeld, denn es würde leicht sein, die Unterschrift zu fälschen. Er riss einen Scheck über 40'000 Pfund heraus und steckte ihn in die Brieftasche. Dann legte er die Wertsachen wieder zurück und schloss den Safe. Er ging zufrieden zum Tisch, wo noch zwei Weingläser, fast voll, standen. Er nahm das seinige und begoss seine Zukunft. Zum Spass blies er in die Flöte. Dann dachte er daran, dass er eigentlich ein Mörder sei und Mörder sollen auch getötet werden, wie das Gesetz schreibt. Die Leiche musste also verschwinden. Er dachte das alles sei kein Problem und es sei schnell Gras darüber gewachsen. Er nahm einen Schluck auf seine Karriere und - verschluckte sich. Hatte sich nicht soeben das Seil bewegt? Er stellte sein Glas ab und dachte nach. Er hatte vorhin in die Flöte geblasen und danach bewegte sich das Seil. Er wollte nochmals das Seil in Bewegung bringen. "Es soll die Möglichkeit haben, mich zu beglückwünschen", dachte er von der Freude über seine Zukunft berauscht. Er pustete kräftig in die Flöte, so dass wohl ein schrecklicher Misston entstand, aber auch ein Zucken durch das Seil fuhr. Es begann sich zu erheben...

Ron begann, eine Melodie zu spielen und starrte auf das Seil. Es ragte nun schon über die Hälfte hoch und begann mit schlangenähnlichen Bewegungen sich auf Ron zu zu bewegen. genau genommen auf seinen Hals zu... Ron war ganz benommen vor Glück und erkannte die Absicht des Seiles nichts. Er spielte ein altes Kinderlied und stimmte sogleich ein Geburtstagslied an, als sich das Seil um dem Hals schlang. "Hallo, kommst Du zu mir? Wie nett von Dir", schwatze er und musst aufhören, zu spielen. Da zog das Seil zu. Noch ehe Ron vernahm, was geschah, sank er erdrosselt zu Boden.

Im fernen Indien lächelte ein greiser Mann erleichtert. Er war vom Fluch des magischen Seiles, das er damals dem Europäer andrehte, erlöst.

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Copyright © April 1980, Wasty, Der indische Seiltrick
Originaltitel: The magic rope
86 Linien
Vorlesezeit: ca. 6 Min.

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Last updated February 12, 2001 by Martin Mathis, e-mail lastbandit.com

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